CH.FILM

Salonica Schweiz 2007 – 87min.

Filmkritik

Jerusalem des Balkans

Rolf Breiner
Filmkritik: Rolf Breiner

Thessaloniki, die Stadt im Norden Griechenlands, hiess einst Salonica und war spanisch-jüdisch geprägt. Im Jahr 1910 lebten hier 110'000 Juden - bei einer Einwohnerzahl von 150'000. Man nannte diesen religiös-kulturellen Schnittpunkt das «Jerusalem des Balkans». Mit dem Zweiten Weltkrieg hat die Stadt ein anderes Gesicht bekommen. Überlebende des Holocaust erzählen ihre Geschichten und skizzieren das Bild einer vergessenen Stadt.

Moishe Bourla ist 87 Jahre alt und wohnt in einem jüdischen Altersheim. Seine Familie stammt ursprünglich aus Ägypten. In Thessaloniki wurde er heimisch und Kommunist, kämpfte gegen die deutschen Besatzer und wurde verbannt. Und zwar 1945 vom rechtslastigen griechischen Regime auf eine Strafinsel. Er lebte in Israel und Russland, kehrte 1990 in seine Heimatstadt zurück. Yaacov Handeli und Oscar Florentin wurden nach Auschwitz deportiert und überlebten. Oscar kehrte nach Griechenland zurück und wurde wie andere jüdische Überlebende als Fremder behandelt.

Schicksale, welche die Geschichte Salonicas oder Thessalonikis widerspiegeln: Die sephardischen Juden wurden 1492 infolge der Inquisition aus Spanien vertrieben und fanden eine neuen Heimat im osmanischen Reich - von Izmir bis Sarajewo. Sie sprachen Ladino (sephardisch). Ihre «Hauptstadt» wurde Salonica. Sie war nach Istanbul die wichtigste Stadt des Reiches und Geburtsort Mustafa Kemals (Atatürk). Erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des osmanischen Reiches wurde sie griechisch, eben Thessaloniki. Die Stadt wurde hellenisiert. Doch erst die deutsche Okkupation zerstörte die jüdischen Lebensgrundlagen und rottete die Bevölkerung aus. 56'000 Menschen wurden 1943 nach Auschwitz deportiert.

Steinchen um Steinchen fügt der Schweizer Dokumentarfilmer Paolo Poloni zusammen. Die Vergangenheit wird durch die Erzählungen der Zeitzeugen lebendig, bleibt aber gleichwohl verloren. Im Fokus stehen jüdische Menschen. Der Bogen spannt sich vom 13jährigen Dani Sevi, der sich auf seine Bar-Mitzvah, auf den Eintritt in die jüdische Männergemeinschaft, vorbereitet. Heute leben noch 500 Juden in Thessaloniki. Aber es werden auch andere Bewohner ins Bild gerückt: die Roma Olivera Shaquiri aus Albanien, die Pflegerin Sofia Leviti aus Kasachstan oder der Fotograf Jiannis Kiriakidis, glühender Makedonier und Patriot, der seit 50 Jahren die lokalen Ereignisse mit der Kamera festhält.

Das Stadt-Porträt bleibt fragmentarisch. Man erfährt einiges über das einstige «Jerusalem des Balkans», über jüdische Schicksale, wenig über das heutige pulsierende Thessaloniki. Auch eine Lokalgrösse wie der Reporter Kiriakidis ist nur eine Randerscheinung. Er tigert durchs Bild, über sein Leben erfährt man nichts. Poloni spannt viel Fäden, skizziert Linien, Schnittpunkte. Sein Bild Salonicas bleibt ein Fresko - mit Absicht. Denn diese zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissene Stadt hat ihr Gesicht verloren, vielleicht auch ihre Seele, ihre Identität.

03.04.2008

4

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