Dharavi, Slum for Sale Deutschland, Schweiz 2010 – 82min.
Filmkritik
Undidaktisches Lehrstück
Der Dokumentarfilm von Lutz Konermann ("Der Fürsorger") und Robert Appleby ist eine vielschichtige Recherche über ein vordergründig verlockendes Projekt einer Slumsanierung, das sich jedoch zunehmend als Alptraum entpuppt.
Mumbai, früher Bombay, ist mit fast 20 Millionen Einwohnern die grösste Stadt Indiens, und fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in Slums. Deren Zahl wird mit 1200 angegeben, und der mit Abstand grösste dieser Stadtteile heisst Dharavi. Im Gegensatz zu den meisten anderen Slums auf der Welt liegt er nicht am Rand, sondern mitten im Zentrum der Stadt. In unmittelbarer Sichtweite der Wolkenkratzer des indischen Finanzzentrums drängen sich auf nur gerade zwei Quadratkilometern die - meist elenden - Behausungen von nicht weniger als 800'000 Menschen.
Damit ist Dharavi nicht nur zum grössten Slum des asiatischen Kontinents, sondern zu einem der am dichtesten bevölkerten Orte der Erde geworden. Zwar sind hier Elend und schockierende hygienische Bedingungen - die Szenen mit jenen Bewohnern, die als Abfallsammler buchstäblich mitten im Abfall leben, gehen unter die Haut - eine allgegenwärtige Realität, doch andererseits ist Dharavi auch ein unglaublich feinmaschiges Netz von Kleingewerblern und funktionierenden Produktionswerkstätten.
Regisseur Lutz Konermann, der Indien gut zu kennen scheint, schafft es, diese Verhältnisse mit der Kamera, die er meist selber führt, sehr plastisch werden zu lassen, dass einen als Zuschauer das Gefühl von Voyeurismus beschleicht. Und er dringt von da aus ganz selbstverständlich in jene andere Welt vor, die eigentlicher Dreh- und Angelpunkt des Films ist: jener der glitzernden Büros in den angrenzenden Hochhäusern, wo man längst ein Auge den Slum geworfen hat, und wo die Verantwortlichen in den höchsten Tönen vom Initiativgeist und dem Innovationspotential der Bewohner von Dharavi schwärmen.
Public Private Partnership heisst die Zauberformel, die der aus den USA heimgekehrte, preisgekrönte Architekt Mukesh Mehta seiner Stadt verpassen will. Das ginge dann so: Private Investoren würden Sozialwohnungen bauen und würden sich damit die Bewohner von Dharavi ködern und hätten Zugang zu dem begehrten Baugrund. Das Kunststück von Lutz Konermann und Robert Appleby besteht darin, dass er einen als Zuschauer längere Zeit im Unklaren lässt, ob diese Art der Slumsanierung nicht doch eine gute Sache wäre - bis er dann mehr und mehr die Aktivisten untern den Slumbewohnern ins Zentrum rückt, die es - zumindest vorläufig schaffen - die zynischen Pläne von Mukesh Mehta zu Fall zu bringen. "Dharavi - Slum for Sale" wird so zu einem spannenden und wohltuend undidaktischen Lehrstück in Sachen globalem Kapitalismus.
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