CH.FILM

Film Socialisme Frankreich, Schweiz 2010 – 101min.

Filmkritik

Vom Schiff aus

Filmkritik: Eduard Ulrich

Die Finanzkrise scheint den Ruf des Kapitalismus ruinieren: Jean-Luc Godard ließ sich vom historischen Gespenst "Sozialismus" inspirieren, seine Assoziationen in Bildern und Klängen zu präsentieren.

Kürzlich erhielt Jean-Luc Godard, der Pariser mit dem Schweizer Pass, einen Ehren-Oscar für sein Lebenswerk. Er nahm die Auszeichnung nicht persönlich in Empfang und verdächtigte die Jury sogar, seine Filme nicht einmal zu kennen. Für sein jüngstes Werk trifft dies tatsächlich zu, denn es war noch nicht fertig und liegt dermaßen weit weg von dem, was sonst oscar-prämiert wird, dass man sich wirklich wundern kann.

Noch dazu trägt dieses Werk im Titel einen Begriff, den die US-Amerikaner fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Es geht hier allerdings nicht um die Ideologie, sondern um historische und aktuelle Aspekte, die eine Beschäftigung mit dem Gedankengut nahelegen. Aber einfach war es nie, einen Film aus Godards Spätwerk zu verstehen. Der Regisseur selbst empfahl schon vor einigen Jahren, seine Filme mindestens dreimal anzusehen respektive anzuhören, einmal auf die Tonspur zu achten, einmal auf die Bilder und dann beides zusammenzubringen. Ein guter Rat, denn immer wieder sind Bild und Ton verschiedener Szenen kombiniert, der Sinn erschließt sich erst, wenn die komplementäre Szene zu sehen respektive zu hören ist. Eine lineare Handlung darf man nicht erwarten.

Vielmehr kreisen die Szenen auf einem Kreuzfahrtschiff im Mittel- und Schwarzen Meer um einige Themen wie dem Verbleib des Goldschatzes der spanischen Nationalbank, der vor den Faschisten nach Russland in Sicherheit gebracht werden sollte. Die Greuel des Zweiten Weltkriegs wirken nach, auf dem Kreuzfahrtschiff treffen Menschen verschiedener sozialer Klassen, verschiedener Regionen (und Religionen) und verschiedenen Alters zusammen: Junge kennen oft die grauenhafte Geschichte Europas nicht, Alte sind von ihr immer noch traumatisiert.

In Odessa präsentiert Godard seine Version der Kinderwagentreppenszene - den Ausschnitt aus "Panzerkreuzer Potemkin" liefert er gleich mit. Ein Schwerreicher kommentiert das Abschaffen eines Steuerparadieses in seinem Land: "Dann leben wir weiter in der Steuerhölle." Immer werden in den scheinbar ziellosen Handlungen, Alltag und Weltgeschichte verschmolzen, nie entkommt eine Vision der Realität. Was Godards Film sehens- und hörenswert macht, ist die wunderbare Qualität der Bilder und Klänge, die zusammen ein Erlebnis bieten, das eine andere Möglichkeit des Mediums erforscht, ohne experimentell zu wirken.

25.05.2021

5

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