Alphabet Österreich, Deutschland 2013 – 113min.
Filmkritik
Himmel und Hölle im Bildungssystem
Erwin Wagenhofer hat bereits mit zwei kritischen Dokumentarfilmen zentrale und globale Übel unserer Zeit aufgespießt, nun ist das Bildungssystem an der Reihe. Und wie in den Vorgängern eröffnet er einen Blick auf ein globales Panorama: Vom chinesischen Drill der Massen bis zu einem deutsch-französischen Spezialfall liefert er Beispiele für entweder problematische oder ermutigende Systeme und Ansätze. Seiner wohlfeilen These von der negativen Wirkung der verbreiteten Methoden stellt er leider keine valablen und praktikablen Alternativen entgegen.
Die Probleme des Bildungssystems sind ein Dauerbrenner. Lehrer, Schüler und Eltern sind unzufrieden oder überfordert, und Reformen scheitern regelmäßig. Auf der einen Seite eine mehr oder minder konservative Institution, auf der andere Seite eine Gesellschaft, die sich im Hochgeschindigkeitswandel befindet und deren Diversität explodiert. In dieser Konstellation ist es relativ einfach, Schwachpunkte zu identifizieren, während es fast unmöglich ist, gute Vorschläge zu entwickeln. Daran krankt auch Wagenhofers Mosaik. Die Vorstellung, als kleines Rad im chinesischen Schulsystem um einen der raren Studienplätze kämpfen zu müssen, lässt uns erschauern. Das gelungene Exemplar einer höchst individuellen, auf Motivation setzenden Erziehung aus dem Elsass taugt aber leider nicht als Modell für die Mehrheit.
Wagenhofer lässt Bildungsexperten und Personalverantwortliche zu Wort kommen, besucht einen Talentwettbewerb von angehenden Führungskräften über mehrere Runden und einen chinesischen Schüler, der bei der Mathematik-Olympiade gut abschneidet. Peinlich ist der Auftritt des deutschen "Mister PISA", der selbst nur ein lamentables Deutsch zu Stande bringt. Ärgerlich ist die Bemerkung eines ehemaligen deutschen Forschers, der in nur einem einzigen Satz einen Kurzschluss vom deutschen Schulsystem zu den Gaskammern während des Zweiten Weltkriegs zieht.
Wagenhofer präsentiert beunruhigende Experimente, die scheinbar auf einen zerstörerischen Einfluss unserer Erziehungs- und Wissensvermittlungsverfahren schließen lassen, wieviel davon den unvermeidlichen Zwängen einer notwendigen Sozialisierung geschuldet ist, lässt er offen. Von einer Vernichtung des Genies in jedem von uns zu schwadronieren, ist offenkundig absurd. Man hätte sich gewünscht, dass er etablierte alternative Modelle wie beispielsweise die von Montessori geprägten Institutionen einbezogen hätte. Allerdings sprengte eine systematische Übersicht auch nur der relevanten Angebote den Rahmen, während eine wissenschaftliche Fundierung der vielen Ansichten von hohem Nutzen gewesen wäre.
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“Wir müssen anders leben” sagte der Regisseur Erwin Wagenhofer schon in seinem Film “We feed the world”. In seinem neuen Film “alphabet” versucht er seine globalisierungskritische Sicht noch grundsätzlicher zu fassen. Dabei nutzt er treffsichere Zitate und Aussagen, für die -hätte man nicht bereits das gleichnamige Buch gekauft- im Film mehrfach das Notizheft zücken möchte.
Letztlich benützt der talentierte Regisseur die portraitierten Persönlichkeiten (Arno Stern, Prof. Dr. Gerald Hüther, André Stern) und das Thema “Bildungsmisere” als Vehikel, um den Zuschauern die Frage zu stellen: wenn das aktuelle System, welches auf Kontrolle und Angst beruht, eine freie Entwicklung hindert oder gar unmöglich macht – was könnte dann ein Gegenmodell für die Schule der Zukunft sein?
Der britische Bildungsforscher Sir Ken Robinson, der im Buch eine Art geistige Klammer bietet, meint dazu treffend: “People do their best when they do the thing they love, when they are in their element”.
Und der im Film wiederholt auftretende Neurobiologe Gerald Hüther, der am 31. 5. 13 in der Schweiz am 1. Bildungskongress – Schulen der Zukunft, ein spannendes Referat gehalten hatte, sieht es so:
“Wir haben diese außergewöhnliche Kraft, damit meine ich die Kraft der Vorstellung. Jede Ausformung menschlicher Kultur ist die Folge dieser einzigartigen Fähigkeit. Doch ich glaube, dass wir sie systematisch in unseren Kindern zerstören. Denn wir akzeptieren blind gewisse Vorstellungen über Erziehung, über Kinder, darüber, was Ausbildung bedeutet, über gesellschaftlichen Bedarf und Nutzen, über wirtschaftliche Zweckmäßigkeit. ”
Fazit: Ein provokativer und aufrüttelnder Film, der viele wache und kritische Zuschauer verdient.… Mehr anzeigen
Geht alle etwas an, die mit Bildung zu tun haben und merken, dass unser System nicht rund läuft. Angst oder Liebe, das ist die richtige Frage!
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