The Diary of a Teenage Girl USA 2015 – 102min.

Filmkritik

Im Kopf eines Teenagers

Urs Arnold
Filmkritik: Urs Arnold

Das sexuelle Erwachen am Beispiel Minnie: The Diary of a Teenage Girl ist Coming-of-Age in seiner unverblümtesten, charmantesten, abgerocktesten Art.

Ganz genau, in diesem Film geht es um Sex. Ab der ersten Szene: Die 15-jährige Minnie (Bel Powley) schwebt darin durch einen Park in San Francisco der Siebziger Jahre, und die Luft ist erfüllt von der hormontriefenden Erinnerung an ihren ersten, gerade passierten Beischlaf. Für Minnie Anlass genug, zuhause den Kassettenrekorder hervorzukramen und fortan ein Audio-Tagebuch zu führen.

Ausführlich spricht sie Tag für Tag ihre Wünsche und Gefühle in das Mikrofon. Die Mama (Kristen Wiig), die im hedonistischen Leben der Zeit versumpft, weiss weder vom Tagebuch, noch vom sexuellen Erwachen der Tochter. Das ist nur gut so, war es doch Muttis Lover Monroe (Alexander Skarsgard), der Minnie die Unschuld geraubt hat. Die beiden treffen sich fortan immer wieder zum Sex, und bald vermutet der Teenager gar: Was sie für ihn fühlt, könnte, ja muss Liebe sein!

Oder auch nicht. Denn sexuell aktiv zu sein heisst eben noch lange nicht, lebenserfahren zu sein. Minnies Stimmungsachterbahn fährt so von Euphorie-Feuerwerken zu Selbstmord-Gedanken alle erdenklichen Höhen und Tiefen im Eiltempo ab. Teenage-Angst hier, Herzklopfattacken da: Kein Wunder will Monroe bei so viel Ambivalenz dem Spuk bald ein Ende setzen. Wenn ihm das nur gelingen würde. Denn wenn sich Minnie eines gewahr ist, dann der Macht der weiblichen Verführung.

Vom Pixar-Streifen Inside Out waren viele Kritiker hin und weg – wegen dessen sprudelnder Fantasie, und weil er eines der grossen Geheimnisse der Welt erschloss, nämlich das Innenleben eines pubertierenden Mädchens. Nach der Visionierung von The Diary of a Teenage Girl kommt man jedoch zum Schluss: Keine Computersimulation vermag tiefer in die Gedanken eines Teenagers eindringen, als dass es dessen persönliches Tagebuch kann.

Es sind dann auch zwei Frauen, die sich für diesen erstaunlichen Film verantwortlich zeigen. Marielle Heller adaptierte die 2002 erschienene Graphic Novel von Phoebe Gloeckner, welche sie auf ihre eigenen Tagebücher basierte. Das filmische Resultat ist Coming-of-Age mit fadengerader Ehrlichkeit, bis zum Rand gefüllt mit all dem Schmerz und der Verwirrung, der Lust und Lustigkeit des Teenagerdaseins. Das körperwarme Pendant von Nymphomaniac sozusagen, eingebettet in einer toll ausgestatteten Zeitkulisse, begleitet von Soundtrack der Siebziger: Zu The Stooges leckt Minnie Iggy Pops Hosenstall, zu Television küsst sie verruchte Mädchen der Schule, zu Nicos groben Dialekt geht sie dem Zeichnen nach – ihrer Bestimmung.

Öfters wird Realfilm und Zeichentrick vermischt, um das Innenleben des Mädchens in einer weiteren Dimension darzustellen. Und welch Mädchen das ist! Die bereits 23-jährige Bel Powley ist superb besetzt, dicht gefolgt vom ganzen Cast, der von Kristen Wiig als trinkfreudige Mutter mit dem einzigen grossen Star dieser Indie-Produktion abgerundet wird.

31.05.2021

4

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