Belgica Belgien, Frankreich 2016 – 126min.

Filmkritik

Blut ist dicker als Bier

Urs Arnold
Filmkritik: Urs Arnold

Als zwei ungleiche Brüder gemeinsam eine Bar führen, regiert der pure Hedonismus. Bald folgt jedoch der grosse Kater.

Nachts, wenn scheinbar alles schläft, laden die Schenken dieser Welt ein: Zum Palavern, zum Feiern, zum Verdrängen. Keiner hat den Mikrokosmos der Bar so schon besungen wie einst Billy Joel in seinem Lied "Piano Man". Würde er jedoch dem Café Belgica, der Lokalität der Brüder Frank (Tom Vermeir) und Jo (Stef Aerts) einen Besuch abstatten, er würde wohl auf dem Absatz kehrtmachen. Denn mit der schunkeligen Atmosphäre seines wunderbaren Songs hat diese rein gar nichts zu tun.

Stattdessen geht es im Belgica bisweilen zu und her wie im Studio 54 selig. Auf der Bühne tobt und zappelt die entfesselte Indie-Musikszene (die Kompositionen stammen allesamt von Soulwax), während das Publikum sich ordentlich betankt und ins Delirium feiert. Hinter den Kulissen multipliziert sich die Masslosigkeit. Es wird gekokst und gefickt, im Rausch gegrölt und sich auch mal darin geprügelt. Das "Zündhölzli" ist dabei Frank: Impulsiv im Guten wie im Schlechten, entgleitet ihm allmählich die Kontrolle über sein Leben. Er entfernt sich von seiner Frau und den Kindern, und zunehmend auch von seinem sensiblen kleinen Bruder.

"Gute Filme entführen in eine andere Welt", lautet einer der Standardsätze rund um das Medium Kino. Sie tun dies, weil sie ihre Welt zutiefst verstehen und sie in einer Komplexität erschaffen, deren wir zumeist gar nicht bewusst werden: Wir rutschen widerstandslos rein, und leben zwei Stunden lang selbstverständlich in ihr. Im Fall von Belgica muss man keineswegs eine riesige Feierkarriere unterhalten oder gehabt haben, um ein Teil seiner (Parallel-)Welt zu werden. Es genügt schon die Erinnerung an eine Party mit musikalisch-alkoholischem Rückenwind oder an einen dieser grauselig verkaterten Morgen, die eigentlich frühe Nachmittage waren.

Dass diese Welt so authentisch geraten ist, hat viel auch mit dem Aufwachsen von Felix van Groeningen zu tun. Sein Vater besass elf Jahre lang eine Bar, in dieser der Junior zeitweise mitarbeitete. Autobiografisch ist der Film seiner Aussage nach nicht, doch die Erfolge und Sorgen eines solchen Unternehmens hat sich van Groeningen aus der Realität entliehen, um sie geschickt um die menschlichen Spannungsfelder zu wickeln.

Van Groeningens Folgefilm zu seinem Meisterwerk The Broken Circle mag es etwas an Stringenz fehlen und darin abermals den "Rise and Fall"-Topos verbauen. Wer Mia-Hansen Løves Eden etwas zu trocken inszeniert fand, sich jedoch in der Materie wohl fühlte, wird aus Belgica so erfüllt rausstolpern wie frühmorgens aus einer ekstatischen Clubnacht.

17.02.2024

4

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Kommentare

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Janissli

vor 6 Jahren

Abgedrehte Brüder-Geschichte mit vielen Exzessen, harten Parties und der bösen Seite, die das Nachtleben so mit sich bringen kann.


tangy

vor 8 Jahren

Die Machart ist ähnlich wie sein Vorgänger 'BROKER CIRCLE'... wieder sehr intensiv/impulsiv... nimmt einen richtig mit. Mir gefiel die Musik unglaublich gut, dann diese Spannung, dieses Drama, diese Mitfühlen...
WOW - für mich bis jetzt der beste Film 2016!!!!!


nicca23

vor 8 Jahren

Selten einen derart intensiven Film gesehen. Dazu trägt auch der fantastische Soundtrack von Soulwax bei, der der Nacht Leben einhaucht und die Bilder musikalisch treffend umsetzt. Den beiden Protagonisten nimmt man ihre Rollen sofort ab und entwickelt von Anfang an eine Beziehung zu ihnen. Am besten schaut man sich Belgica vor dem Ausgang an, damit man sich danach mit anderen Augen in den ewiggleichen Konsum stürzt. Ich für meinen Teil eröffne nun jedenfalls meine eigene Bar!; -)Mehr anzeigen


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