The Sense of an Ending Grossbritannien 2017 – 108min.
Filmkritik
Erinnerungen, die weh tun
Frank Kermode führte 1967 in seinem Buch «The Sense of an Ending: Studies in the Theory of Fiction» aus, dass jeder Mensch in seinem Kopf seine eigene Geschichte schreibt. Als kohärente Erzählung mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Ende. Das geschieht unterbewusst, aber aus der Notwendigkeit heraus, mit dem temporalen Chaos koexistieren und den Tod vermenschlichen zu müssen. Diese Philosophie inspirierte Julian Barnes, 2011 den Roman «The Sense of an Ending» zu publizieren, der die Grundlage dieses Films ist.
Tony Webster ist ein alter Griesgram, der geschieden ist und seine Zeit mehrheitlich in seinem kleinen Geschäft verbringt. Einst war er in Veronica verliebt. Die beiden waren ein Paar, doch dann entschied sie sich für seinen Freund Adrian. Was aus Veronica wurde, nachdem Adrian sich umgebracht hatte, erfuhr er nie. Doch nun kriegt er mit, dass ihm Adrians Tagebuch hinterlassen wurde, das Veronica aber noch immer in ihrem Besitz hat. Das zwingt Tony, sich der eigenen Vergangenheit, aber auch den Erinnerungen, die er über all die Jahre selbst geformt hat, zu stellen.
Der Roman, aber auch der Film befassen sich mit Kermodes Philosophie, und zwar dahingehend, dass betrachtet wird, wie ein Mensch die eigene Vergangenheit umschreibt. Weil mit der Zeit Erinnerungen verblassen und durch das aufgefrischt werden, was man damals gerne gesagt oder getan hätte. Weil die Menschen, die es miterlebt haben, sterben und damit die Überlebenden die Geschichte neu schreiben können. Weil der Verstand ein Biest ist, das seinem Besitzer Streiche spielt, wenn vielleicht auch nur aus dem Grund heraus, das Leben erträglicher zu machen. So scheint es für Tony Webster, dessen Vergangenheit man in Form ausführlicher Rückblicke erlebt und der ein Leben lang versucht hat, zu vergessen, was er getan, was er vielleicht auch ausgelöst hat.
Jim Broadbent spielt diesen Tony Webster – und das macht er meisterlich. Sympathisch ist an dieser Figur nichts, aber das gilt für alle Protagonisten von The Sense of an Ending. Dies ist kein Film, den man sich der Figuren wegen anschaut, in die Geschichte taucht man jedoch tief ein. Allerdings ist dies auch ein Film, der wohl eher ein älteres, zumindest reiferes Publikum ansprechen wird, da es eines gewissen Alters bedarf, um nachvollziehen zu können, was Tony erlebt. Der Blick zurück, das Überdenken dessen, was gewesen ist, das tun nur Menschen, die auch genügend zu bereuen haben.
The Sense of an Ending ist ein stiller, guter, aber nicht im klassischen Sinne unterhaltsamer Film – wohl aber einer, der etwas auszusagen hat und der noch lange nachwirkt.
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Kommentare
Ritesh Batra hat versucht den tiefschürfenden Roman von Julian Barnes zu verfilmen. Ein Glück, dass er als Hauptdarsteller Jim Broadbent (als Tony Webster) verpflichten konnte. Der trägt den ganzen Film und vermeidet so, dass man das Ganze in die Schublade “Ärgerlich, weil kryptisch“ versenken muss.
Im Roman werden zwei Teile klar getrennt, im Film werden sie zerschnitten und gemischt. Hier erhält der antiquierte Titel ‘Cutter‘ wieder seine ursprüngliche Bedeutung.
Der geschiedene Tony Webster wird durch äußere Ereignisse gedrängt sein Leben zu überdenken. Das tut er auf zwei Ebenen, die nicht leicht zu durchschauen sind. Alle Figuren, die um ihn herum auftauchen sind kalt, unfreundlich und distanziert. Dabei ist Tony jetzt eine Seele von einem Alten. (War vielleicht früher einmal ein junger Grantler!) Weil er in Cambridge studiert hat, gibt es noch philosophische Einblendungen in die Dialoge.
Die Ex (Harriet Walter, trocken und gefühllos) macht ihn fertig, wo sie nur kann. Seine Tochter Susie (Michelle-DowntonAbbey-Dockery) findet erst nach der Geburt ihres ersten Kindes nette Worte für den geburtshelfenden Opa. Und die mysteriöse Veronica (Charlotte Rampling) trifft sich mit Tony, läuft davon, taucht als Betreuerin auf und verschwindet wieder. Verwirrspiel ist angesagt. Das können die Zuschauer beim Verlassen des Kinos im Gespräch klären. Das sollte aber nicht das übliche Verhalten sein. Man kann über den tieferen Sinn interpretatorische Gespräche führen, nicht aber über den banalen Inhalt. Ich verließ das Kino mit den Fragen ‘Wer war nochmal die Sarah?‘ und in welchem Verhältnis stand das Schnittchen als junge Veronika (Freya Mavor) zum jungen Tony? Und wo kommt der behinderte Sohn her? K.V.… Mehr anzeigen
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