Favolacce Italien, Schweiz 2020 – 98min.
Filmkritik
Im Schatten der Sommerfröhlichkeit
Die Fratelli d’Innocenzo schildern in ihrem zweiten Film die (Seelen-)Nöte verwöhnt-verwahrloster Vorstadtkids.
I bambini – die Kinder sagt man, – würden in Italien geradezu vergöttert. Doch ebendiese Bambini, verraten Statistiken, kommen als Erwachsene von ihren Familien oft nicht los, überhaupt ist in Italien seit Gründung der EU und der Finanzkrise vieles nicht so, wie es sein könnte oder sollte. Doch darüber spricht keiner. Schon gar nicht in der gutbürgerlichen Vorortsgemeinde von Rom, in der „Favolacce“ spielt, der nach dem Mafiadrama La terra dell'abbastanza zweite Film der Zwillingsbrüder Damiano und Fabio D’Innocenzo.
Als Erzähler figuriert ein Mann (Stimme: Massimo Tortora), der eines Tages ein achtlos weggeworfenes Tagebuch findet. Die in grüner Tinte verfassten Eintragungen lassen darauf schliessen, dass dessen Besitzerin ein Mädchen war. Weil die Eintragungen abrupt abbrechen, sieht sich der Erzähler gezwungen, die auf „Lügen basierende wahre Geschichte“ weiter zu spinnen.
Hier setzt Favolacce ein. Mit der Schilderung eines gewöhnlichen Sommerabends. Die Luft ist lau, die Grillen zirpen, die Familien Rosa und Placido sitzen im Garten beim gemeinsamen Abendbrot; hiesse Bruno Placido seine beiden Kinder nicht affig ihre glänzenden Zeugnisse vorzulesen, wäre alles palletti. Die Schilderung zieht sich über die Ferien bis zum Beginn des neuen Schuljahres bruchstückhaft weiter. Im Zentrum steht der Schreiberin jüngerer Bruder Dennis, ihr arbeitsloser Vater, ihre lethargische Mutter. Hervorgehoben werden des Weiteren: Die frühreife Ada, welche Dennis zu verführen versucht. Die lebenslustige Vilma, die 17-jährig Mutter wird, Dennis schüchterner Schulkamerad Geremia, der seine Nähe sucht. Der Lehrer, der Dennis in seiner Freizeit alles erklärt, auch den Bau einer Bombe.
Es wäre von den Nachmittagen am Swimmingpool, über den Ausflug mit den Eltern bis zu den Grillabenden eigentlich alles normal, wenn die Brüder d’Innocenzo nicht immer wieder auf die Momente zielten, in denen ein banales Ereignisse unverhofft ins Alptraumhafte kippt und die Idylle Risse bekommt.
Formal streng, vor allem von den Kindern toll gespielt, zudem dicht in der Schilderung eines sich aus der ewigen Unzufriedenheit zu kurz Gekommener nährenden Unbehagens, geht „Favolacce“ direkt unter die Haut. Als beklemmender Alptraum, der erzählt, wie Kinder zu dem werden, was ihnen die in vermeintlich bester Absicht handelnden Erwachsenen vorgeben: frühsexualisierte und gewalttätige Wesen, die am Leben verzweifeln.
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