Notturno Frankreich, Deutschland, Italien 2020 – 100min.

Filmkritik

Die bleierne Schönheit flammender Himmel

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

Gianfranco Rosi hat in den Grenzgebieten von Syrien, Irak, Kurdistan und Libanon einen dokumentarischen Film gedreht. Dessen Bilder, zu grossen Teilen nachts oder in den Dämmerstunden entstanden, zeugen von einer lähmenden Versehrtheit, die Menschen und Länder nach Kriegen prägt.

Soldatinnen bewachen eine grüne Grenze. Ein Mann bricht im Abendrot zum Fischen auf. Ein Paar teilt sich bei einem nächtlichen Stelldichein auf einer Dachterrasse in einer Stadt eine Wasserpfeife, in der Ferne hallen Schüsse. Der halbwüchsige Ali steht stundenlang unter einem Baum, auf einem Feld. Er wird frühmorgens geweckt, damit er an der Strasse steht, wenn die Jäger vorbeifahren und einer von ihnen ihn vielleicht als Begleiter mitnimmt. Die Soldatinnen verziehen sich tagsüber in ihrer Unterkunft. Laster, Autos, Panzer queren neben einer Brücke einen Fluss. In dunkler Nacht durchsuchen Soldaten verlassene Häuser, ihre Kopflampen nehmen sich auf der Leinwand wie schwirrende Leuchtkäfer aus.

Die Bilder von Gianfranco Rosis «Notturno» sind von verstörender Schönheit, das Tempo seines Films ist gedrosselt. Im Literarischen würde man von einer Betrachtung besprechen. Einer Betrachtung vergangener Kriege, beziehungsweise von Landschaften und Orten, an denen vor noch nicht langer Zeit kriegerische Ereignisse Vonstattengingen. Und von Menschen, die nach diesen Ereignissen weiterleben in eben diesen Landschaften und Orten, die ihnen Heimat sind – oder einst waren.

Die Namen der Orte sind so nebensächlich wie diejenigen der Menschen. Die Landschaften sind leicht hügelig und weit, teilweise verwildert. Ihre Versehrtheit offenbart sich in klaffenden Schützengräben, Grenzwallen, zerstörten Brücken, zerbombten Dörfern und Häusern unmittelbar. Diejenige der Menschen zeigt sich erst, wenn die Menschen reden. Wenn eine der Frauen, die davor schweigend durch eine verlassene Gefängnisanlage schwärmen, in trauernder Klage auf ihren getöteten Sohn ausbricht. Wenn Kinder, die einer Lehrerin ihre Zeichnungen erklären, von Tränen, Schlägen, Folter, selber beobachteten Hinrichtungen zu erzählen beginnen. Tief durchatmen, sagt die Lehrerin, ihr seid nun in Sicherheit. Ihre Traumata indes werden die Kinder dadurch so wenig los wie die Patienten einer psychiatrischen Klinik, die ein Stück auf ihre malträtierte Heimat proben und dabei ins Stocken geraten.

«Notturno» ist inhaltlich bedrückend, in seiner Gestaltung aber von berückender Schönheit. Ein stilles Denkmal an alle, die nach einem Krieg so gut sie können weiterzuleben versuchen.

20.09.2021

4

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