Der menschliche Faktor 2021 – 102min.

Filmkritik

Alles eine Frage des Blickwinkels

Cornelis Hähnel
Filmkritik: Cornelis Hähnel

Regisseur Jean-Luc Godard hat einmal gesagt, Film sei 24 mal die Wahrheit pro Sekunde, sein Kollege Michael Haneke hingegen hat den Satz zu „Film ist 24 mal die Lüge pro Sekunde“ paraphrasiert und kommt somit zu einem völlig anderen Ergebnis. Vermutlich haben beide Recht, denn wie immer kommt es darauf an, wie man die Dinge betrachtet. Und genau mit dieser Verschiebung von Perspektiven und Blickwinkeln spielt Regisseur Ronny Trocker in seinem zweiten Film „Der menschliche Faktor“.

Im Zentrum des Films stehen Jan und Nina. Sie sind ein modernes und erfolgreiches Ehepaar und führen zusammen eine Werbeagentur. Doch als Jan ohne Rücksprache mit seiner Frau den Auftrag einer politischen Partei annimmt, fühlt sich Nina verletzt und übergangen und überlegt, die Firma zu verlassen. Um die Dinge wieder gerade zu rücken fahren sie mit ihren Kindern in ihr Ferienhaus an der belgischen Küste. Als sie dort ankommen, überrascht Nina Einbrecher im Haus, die unerkannt fliehen können. Die Stimmung ist getrübt und je mehr sie über den mysteriösen Vorfall sinnieren, desto mehr geraten ihre Ansichten über das Geschehene aneinander und die Familienidylle bekommt Risse.

Was ist hier passiert? Diese Frage schwebt über „Der menschliche Faktor“. Allerdings geht es nur auf den ersten Blick um den seltsamen Einbruch ins Ferienhaus, denn Ronny Trocker benutzt diesen Spannungsmoment, um ausgehend davon den Zerfall einer Ehe in einer hyper-medialisierten Welt zu erzählen. In einer nicht linearen Erzählstruktur werden die Ereignisse vor und nach dem Vorfall Stück für Stück aufgedeckt und ergeben ein immer komplexeres Bild. Zugleich kehrt Trocker in wiederkehrenden Zeitschlaufen zum Einbruch zurück, den er dann jeweils aus einer anderen Perspektive erzählt. Durch diese unterschiedlichen Blickwinkel entsteht eine Sammlung von Wahrheiten, die den Zuschauer zwingen, permanent seine eigene Position zu hinterfragen.

„Der menschliche Faktor“ setzt die Änderungen der Blickrichtungen auch visuell um. Die Kamera folgt den verschiedenen Figuren und übernimmt ihre Sichtweisen, angefangen vom Blick der Einbrecher über jedes Familienmitglied bis zur Wahrnehmung der Haustier-Ratte, (die prompt die Aufregung über den Einbruch zum Ausbruch nutzt). Mit der Veränderung der Sichtachsen und dem Spiel von extremer Nähe und großflächiger Aufsicht kreiert der Film eine dichte, wabernde Atmosphäre, die eine konstant unterschwellige Spannung aufrechterhält. Es wird vieles gezeigt und zugleich bleibt immer etwas im Dunkeln. Als Zuschauer spürt man, wie das Unbehagen innerhalb der Familie wächst und schwelende Konflikte immer mehr verbalisiert werden. Wenn auch nicht immer erfolgreich.

Denn anhand dieser (scheinbar) perfekten Lebenswelt zeigt der Film, wie schnell Kommunikation scheitern kann, wie leicht Wahrnehmungen manipulierbar sind und wie man sich mit einem makellosen Image über die eigenen Probleme hinwegtäuschen kann. Leider gelingt das Verweben von Familiendrama und Medientheorie nicht auf ganzer Linie und vor allem durch den komplexen theoretischen Überbau bleibt der Film, obwohl er sich permanent öffnet, auf seltsame Art verschlossen.

09.03.2021

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