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#Locarno69: Rückblick in vier Stimmen
Nach dem 69. Locarno Filmfestival, welches von der Kritik als interessanter Jahrgang gewürdigt wurde und dessen Wettbewerbs-Jury am Ende Godless aus Bulgarien vorne sah, werfen die vier CH-Kritiker/innen der Critics Academy einen Blick auf die Nachwuchs-Sektionen.
Von Mariama Balde, Lili Hering, Franziska Meierhofer und Elia Molo
Cineasti del Presente
Die Sektion «Cineasti del Presente» versammelte eine grosse Vielfalt an Strömungen, Genres und Formen. Das Spektrum reichte von schwerer Kost wie Destruction Babies von Mariko Tetsuya (beste Regie), dem Dokumentarfilm Pescatori di corpi oder dem Dorf-Drama Il Nido bis zu beschwingtem und herzergreifendem Unterhaltungskino wie El futuro perfecto (Swatch First Feature Award). El auge del humano, Gewinner des Leoparden in der Sektion porträtiert Junge Menschen in Argentinien, Mozambik und den Philippinen, die ihre Wünsche und Zukunftsvorstellungen mit der gesellschaftlichen Realität und des Arbeitsmarktes konfrontiert sehen; der Film zeigt eindrücklich auf, dass es heute in sehr verschiedenen Kontexten um sehr ähnliche (Generationen-)Probleme geht. Der Gesamteindruck einer enormen Reichhaltigkeit und doch sehr unterschiedlicher Qualität wird dadurch bestätigt, dass in der Sektion auch Douglas Gordons' I had nowhere to go, einer fast ohne Bilder auskommenden Auseinandersetzung mit dem Leben und Schaffen von Jonas Mekas, dem Urgestein des nicht-narrativen Films, Platz fand.
Pardi di Domani
Die Kurzfilm-Sektion Pardi di Domani hat eine Schweizer und eine internationale Untersektion. In der Schweizer Untersektion, juriert von Edgar Reitz, Marian Alvarez, Julie Corman, Shahrbanoo Sadat und Nicolas Steiner waren Filme mit einer für Nachwuchsfilmer starken Handschrift zu sehen, die sich mit Themen wie Aussenseitertum («Dormiente»), Erwachsenwerden («La sève») oder dem Exil («Lost Exile») auseinandersetzten. Namentlich für junge Filmer/innen in bzw. aus Schweizer Hochschulen hat sich diese Sektion als ein wahres Karriere-Sprungbrett erwiesen. Vertreter/innen von Schweizer Hochschulen waren «Côté Cour» von Lora Mure-Ravaud, «Lost Exile» von Fisnik Maxhuni, «La sève» von Manon Goupil, «Genesis» von Lucien Monot und der Animationsfilm «Die Brücke über den Fluss» von Jadwiga Kowalska. Letztere drei wurden mit Preisen ausgezeichnet.
Signs of Life
Die Sektion Signs of Life wartete in Locarno mit einer beeindruckenden Selektion von Filmen auf, die sich allesamt dem klassischen Narrativ verweigern und anhand experimenteller Erzählformen oder Thematiken Neues ausprobieren. Svi severni gradovi von Dane Komljen spielt im ehemaligen Jugoslawien und kommt ganz ohne Dialog aus: Zwei Außenseiter leben in ihrer eigens gebauten, improvisierten Welt, bis ein Eindringling auftaucht. Ähnlich in The Sun, the Sun blinded me von Anka und Wilhelm Sasnal, inspiriert von Camus' Erzählung «L'étranger»: Ein Mann, der der Gesellschaft den Rücken gewandt hat, wird durch das Erscheinen eines Flüchtlings aus der Balance gebracht. «Pow Wow» von Robinson Devor nimmt sich Einsiedlern an, die am Rand der Wüste des Coachella-Tals leben. Fiona Tan hat «Ascent» aus 4500 Fotos zusammengefügt und erzählt die Geschichte des Fuji in Japan, irgendwo an der verschwommenen Grenze zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Ebenso lässt sich Theo Anthony's «Rat Film» schwer in einer Kategorie unterbringen. Der Filmemacher erzählt im essayistischen Stil die Geschichte der Stadt Baltimore sowie der Ratte. In «300 Miles» reist Orwa Al Mokdad quer durch Syrien, auf der Suche nach einem Grund für diesen Krieg. Julio Bressane zeigt in «Beduino» ein Paar in eindringlichen Bildern und «Anashim shehem lo ani» portätiert eine junge Frau, die Regisseurin Hadas Ben Aroya selbst, auf der Suche nach persönlicher Freiheit in Tel Aviv.
Academy Screenings
Das bereits als «Boutique-Academy» bekannte Programm des Filmfestivals Locarno versammelt die Initiativen Filmmakers Academy, Critics Academy, Industry Academy, Documentary Summer School sowie Cinema & Gioventù mit insgesamt rund 100 Teilnehmer/innen. Die Summer Academy ist zwar keine Sektion des Festivals, und man kann darin keine Preise gewinnen; dennoch verdient die Akademie und namentlich die darin vertretenen Filmemacher/innen eine Erwähnung. Das Academy-Programm besteht substanziell aus Begegnungen, u.a. in Masterclasses mit Persönlichkeiten wie Ken Loach, David Linde und Howard Shore. Highlight bildeten zweifellos die Screenings der Kurzfilme aller Filmmaker 17 Academy-Teilnehmenden. In drei Themenblöcken (All you fear is love, It's my people und Dare to be wild) und in einer separaten Session der jungen Regisseure aus der diesjährigen Cannes Cinéfondation Residenz wurde dort die ausserordentlich authentische, feinsinnige und humorvolle Arbeit dieser neuen Generation an Filmemachern sichtbar. Die zu Porträts und Interviews verdichteten Begegnungen zwischen den Filmemacher/innen und den Kritiker/innen finden sich, ebenso wie Kritiken und Hintergrundgeschichten, auf den Portalen Indiewire und Variety Daily, das übrige Schaffen der Schweizer/innen unter ihnen hier beim Cineman sowie demnächst in anderen Fachmedien wie dem Filmbulletin.
Alles über die vergangene 69. Edition des Filmfestival Locarno gibt es hier in unserem Special: Locarno-Special