Boyhood USA 2014 – 163min.

Filmkritik

Süßer Vogel Jugend

Cornelis Hähnel
Filmkritik: Cornelis Hähnel

Regisseur Richard Linklater schaut gerne etwas länger hin: 1995 erzählte er in Before Sunrise die Liebesgeschichte von Jesse und Celine. Mit Before Sunset kam 2004 die erste Fortsetzung ins Kino, 2013 folgte mit Before Midnight der dritte Blick auf diese Beziehung. In seinem neuen Film Boyhood konzentriert er sich ebenfalls auf eine Langzeitbeobachtung: zwölf Jahre lang hat er dafür gedreht. Ein Aufwand, der sich definitiv gelohnt hat, liefert er doch den schönsten Film des Wettbewerbs der Berlinale 2014 ab.

Mason (Ellar Coltrane) ist ein ganz normaler amerikanischer Junge und lebt mit seiner Mutter (Patricia Arquette) und seiner größeren Schwester in Austin, Texas. Seine Mutter tut zwar alles, damit es der Familie gut geht, doch gerät sie immer an die falschen Männer. Sein Vater (Ethan Hawke) hingegen lebt einfach in den Tag hinein und träumt von einer Karriere als Musiker. Über die Jahre kommt es zu großen und kleinen Dramen und Mason wächst mit diesen vom kleinen Jungen zum Mann heran.

Richard Linklater erzählt in Boyhood vom Erwachsenwerden. Um viel mehr geht es nicht. Aber das muss es auch nicht, denn wie Linklater aus dem Leben von Mason erzählt, ist nicht nur aufgrund der zeitlichen Dimension großartig. Es sind die kleinen Momente, auf die sich der Film konzentriert: Situationen, die man so oder ähnlich auch erlebt hat, es sind schöne und auch schmerzhafte Erinnerungen. Dabei geht es nicht um das bloße Abhaken von üblichen Adoleszenzstationen, sondern um die vielen Momente dazwischen, das scheinbar Nebensächliche, das Unklare, wo sich die Emotionen in der Schwebe befinden.

Und es ist wirklich faszinierend, wie man den Hauptdarstellern beim Älterwerden zusieht. Die Dreharbeiten fanden ungefähr einmal im Jahr statt, dann wurde knapp eine Woche gedreht, geschnitten und so wuchs der Film über die Jahre. Doch trotz der langen Zeitspanne wirkt Boyhood nicht gestückelt, sondern kommt flüssig und ohne irgendwelche Brüche daher. Auf Zwischentitel oder Jahreszahlen wird dabei verzichtet, die Szenen gehen ganz selbstverständlich ineinander über.

Natürlich ist die Entscheidung, einen Film über einen so langen Zeitraum zu drehen ein Wagnis. Dass das Experiment letztlich geglückt ist, liegt am Ton, den Linklater anschlägt: er vermeidet jegliche Überdramatisierung und konzentriert sich auf Momentaufnahmen. Es ist ein normales Leben, aus dem er erzählt. Er habe versucht, seine Figuren eher als gute Freunde zu betrachten, die man immer wieder gern besucht. In der Tat spürt man die Liebe zu seinen Figuren, er läßt sie ihre Erfahrungen und Fehler machen, ohne über sie zu urteilen. Und er verzichtet glücklicherweise auf jegliche Sentimentalität nach dem Motto "Kinder, wie die Zeit vergeht", sondern agiert lediglich als Chronist eines Heranwachsenden. Gerade diese unaufgeregte Haltung macht Boyhood zu einem Ereignis. Ein beeindruckender und wunderschöner Film über die Kindheit und die Jugend und eine Liebeserklärung an den Augenblick.

16.04.2024

5

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Kommentare

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Makkaweli

vor 7 Jahren

Ein wirklich gelungener Film, unaufgeregt, aus dem echten Leben - gerade darum erfrischend und gerade vom historisch sonst mit Fiktion und Eigenmarketing so überladenen US-Kino.
Ich frage mich, wieso keine afroamerikanische Figur besetzt wurde - ob es daran gelegen hat, authentisch zu wirken, gerade in Texas, und deshalb nicht der "Quoten-Afroamerikaner" zu besetzen oder anderer Gründe wegen.
Wer den Film nicht mag, hat wahrscheinlich ein gewisses Alter - oder Reife - nicht erreicht. Mit 20 hätte ich den wohl auch nicht so toll und langatmig gefunden, zumindest hätte ich ihn nicht wirklich verstanden.Mehr anzeigen


Janissli

vor 7 Jahren

Eine ganz exklusive Art einen Film zu drehen, sehr auswendig. Die Geschichte hinkt leider der Produktion hinterher.


Onophrius

vor 9 Jahren

Ergänzung: Die misogynen Aussagen der heranwachsenden Jungen sind tatsächlich ärgerlich - aber es sind Aussagen dieser Jungen und nicht des Films oder gar des Regisseurs! So sprechen halt tatsächlich manche Jungen. Der Film verherrlicht ja auch nicht Drogen, nur weil dort einige junge Leute Joints rauchen und noch anderes einnehmen. Die Mutter hat übrigens sehr wohl etwas von Belang zu sagen - mehr als alle anderen Figuren. Weshalb sonst würde ihr der ehemalige Spengler so überschwänglich danken? Der Film ist sehr eindrücklich und die Charaktere psychologisch geschickt gezeichnet. Empfehlenswert.Mehr anzeigen


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