Mathilde - Eine grosse Liebe Frankreich, USA 2004 – 134min.

Filmkritik

Vernunft kann tödlich sein

Filmkritik: Andrea Bleuler

Regisseur Jean-Pierre Jeunet ("Le fabuleux destin d'Amélie Poulain") hat sich nach dem mässig erfolgreichen "Alien: Resurrection" erneut mit Hollywood eingelassen. Doch keine Bange: Er konnte bei der Adaption von Sébastien Japrisots Bestseller "Un long dimanche de fiançailles" seine Vision des Films durchsetzen.

Es ist die Resistenz gegen die Abgeklärtheit des Erwachsenenalters, die Jean-Pierre Jeunet in nahezu all seinen Werken ("Delicatessen", "La cité des enfants perdus", "Amélie") predigt und auch in seinem jüngsten Film wieder aufnimmt: Vieles spricht dafür, dass Mathildes (Audrey Tautou) Verlobter Manech (Gaspard Ulliel) wenige Meter vor einem Schützengraben verendete. Doch kindliche Hoffnung und kaum vorhandene Indizien lassen Mathilde an sein Überleben glauben. Wie in "Amélie" ist Audrey Tautou als überfranzösische Kindfrau im Einsatz, die mit Kleinmädchen-Attitude durch die böse, kriegsgeschändete Welt wandelt.

Von ihrer idyllischen Heimat über den bretonischen Klippen, wo sie mit Tante und Onkel lebt, bricht Mathilde wiederholt nach Paris auf, um dank diversen Gehilfen (Detektive, eine Prostituierte auf Rachefeldzug, Kriegsüberlebende - Jodie Foster spielt eine davon) Details über die letzten Tage ihres verschollenen Geliebten herauszubekommen. Kinderlähmung hat sie mit einem lahmen Bein zurückgelassen, doch kein Gang ist ihr zu weit.

"Un long dimanche de fiançailles" widmet den grössten Teil seiner Zeit dem Grauen des Krieges und den emotionalen Verwüstungen, die er anrichtet. Jeunets Liebe zu (optischen) Details dient in die diesem Fall dazu, das Schlimmste zeigen. So wird die Off-Stimme, die berichtet, wie Manech den Verstand verliert und fortan in einer Art Delirium vor sich hinvegetiert, nachdem ein Kollege von einer Granate über ihm in Stücke zerrissen wurde, auch von entsprechenden Bildern untermalt.

Doch selbst wenn Jeunet seinen unverkennbaren visuellen Stil einsetzt, wirkt seine Geschichte niemals beschönigend oder gar romantisierend. Seine Adaption des Meisterwerks des im Frühjahr 2003 verstorbenen französischen Autors und En-gros-Drehbuchlieferanten Sébastien Japrisot (unter anderem "L'été meurtrier" - verfilmt mit Isabelle Adjani) karikiert zwar seine Akteure, trägt aber gleichsam dem Kriegswahnsinn Rechnung: Es gelingt Jeunet, den Tonfall des Films zwischen Humor und Horror oszillieren zu lassen und gerade dadurch der Realität nahe zu sein - ein Wagnis von einer Präzision und Kraft, das sich nur mit dem französischen Wort "Esprit" würdig bezeichnen lässt.

Irritierend ist dabei einzig und allein die Amélie-ähnliche Skizzierung von Audrey Tautous Charakter. Weder Herz noch Verstand möchten diese beiden so unterschiedlichen Filme auf diese Weise in Verbindung gebracht sehen.

25.01.2021

4.5

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Kommentare

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RobertdeNirosta

vor 6 Monaten

Französische Variante von
"Der Englische Patient" oder "Abbitte" , insgesamt praktisch genauso genial wie diese beiden. Die Kriegsgräuel werden aber teilweise deutlich härter dargestellt.
In jedem Fall Mal eine super Abwechslung zum üblichen Hollywood-Einheitsbrei.
Wertung : 5/5 SterneMehr anzeigen


Gelöschter Nutzer

vor 15 Jahren

Der Film vereint auf geniale Weise drei Genres: zunächst ist es ein Kriegsfilm, mit all der Grausamkeit die dazugehört, dann wie im Titel angekündigt natürlich ein Liebesfilm und schließlich und endlich ein Detektivfilm.
Mathilde will nicht glauben, dass ihr geliebter Manech – ihre Sandkastenliebe - im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Mit schier nie ermüden wollendem Eifer forscht sie, wie und ob er umgekommen ist. Eine Gehbehinderte (Kinderlähmung) sucht einen Toten?
Dabei wird der Zuschauer ständig zwischen Gewissheit über den Tod des Geliebten und neuer Hoffnung, dass er überlebt hat, hin und her gerissen. Der Regisseur arbeitet mit Rückblenden, Traumsequenzen und immer wiederkehrenden Symbolen wie dem Leuchtturm (einem Wegweiser also), einem roten Wollhandschuh (der wohlige Wärme bietet) oder MMM.
Bis in kleine Nebenrollen mit großen Namen besetzt (Jodie Foster z. B.) blitzt sogar hin und wieder etwas Komik auf.
In unheimlich schöne Bilder gehüllt, die einen emotional durch einen aus dem Off eingesprochenen Kommentar eng an die Handlung binden, kommt es zu einem Ende, das glaubhaft, überraschend und wohltuend ist.Mehr anzeigen


kotom

vor 19 Jahren

Tolle Geschichte super Gespielt von Audrey


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