Macht der Besessenheit Deutschland, Grossbritannien, USA 2000 – 123min.

Filmkritik

Gefährliche Schreibe

Benedikt Eppenberger
Filmkritik: Benedikt Eppenberger

Dem amerikanischen Regisseur und Edel-Erotomanen Philip Kaufman ist gelungen, woran andere gescheitert sind: Marquis de Sades schwer verdaubare Philosophie für die Leitkultur des 21. Jahrhundert fit zu machen.

Schwarze Haare fallen auf weisse Haut. Die Säfte geraten in Wallung, denn gleich zu Beginn von "Quills" zeichnet sich das Gesicht einer schönen Frau ab, deren Lippen stumme Lustschreie entweichen. Dass dies ihre letzte Wallungen sein werden, erkennt der Zuschauer mit dem zunehmenden Einbruch der Welt in dieses Ensemble: Madame liegt unter der Guillotine. Paris 1791. Vor ihr ein Korb mit abgehackten Köpfen, hinter ihr ein sabbernder Henker, der diesen delikaten Hals nur allzu gern freimacht. Erotik, ein Schnitt weg vom Abgrund. "I have a naughty little tale to tell ..." säuselt über diese Bilder aus dem Off der "göttliche" Marquis De Sade. Dann aber kommt es wie immer, wenn ein liberaler Hollywood-Regisseur ein "schmutziges kleines Märchen" erzählt. Es wird gesäubert, aufgeplustert, und endet, nachdem sämtliche kultur- und gesellschaftsrelevanten Fragen durchgehechelt, mit der Forderung, doch gefälligst die Meinungsfreiheit zu achten.

Interessieren tut die böse Philosophie des nihilistischen Freigeistes Marquis de Sade (1740 – 1814) den Regisseur Philip Kaufman ("The Right Stuff") und seinen Autor Doug Wright herzlich wenig. Beide kennen das Mainstream-Kinopublikum nur zu gut, als dass sie ihm mehr als eine Prise Irritation zumuten würden. Und von Pasolini wissen sie, dass der sich mit seiner Sade-Umsetzung "Salò o le 120 giornate di Sodoma" (1975) - einer Übertragung von "Die hundert Tage von Sodom" in die Endzeit des italienischen Faschismus - eine Menge Scherereien eingehandelt hat.

Dieselben Fehler würden den Amis nicht unterlaufen, weshalb sie de Sade stracks zur Identifikationsfigur erheben, und sich beim Erzählen, statt an Pasolinis Endzeitspuk, lieber an postmoderne Wundertüten à la "Shakespeare in Love" halten. So springt man, hopps, ins Jahr 1811 nach Charenton, einem kuscheligen Asyl für Geistesgestörte, in dem, wohlversorgt, de Sade (Geoffrey Rush) seine Pornographie im Akkord verfasst. Es ist eine Art Montessori-Kindergarten für Erwachsene, wo der aufgeklärte Priester Coulmier (Joaquin Phoenix) seine Schützlinge mit Maltherapie und Gospelsingen beschäftigt. Der Kirchenmann ist so tolerant, dass er des Marquis' masslose Produktion von Wichsvorlagen glatt als gelungene Sublimation durchgehen lässt. Was er allerdings nicht weiss ist, dass Magd Madeleine (Kate Winslet) de Sades Schreibereien heimlich zum Druck weiterreicht. Der Schweinekram hat Erfolg und gelangt schliesslich bis zu Napoleon. Ungehalten befiehlt der, den Marquis zu liquidieren, worauf der sinistre Irrenarzt Dr. Royard-Collard (Michael Caine) auf den Plan tritt.

Nett zusammenfabuliert und solide gespielt, ist "Quills" dennoch nie mehr, als die Summe aller kreuzbrav aneinandergereihten Konflikte, über die der historische Sade in seinem Denken längst hinweggegangen war. So ist's einfach "One Flew Over the Cuckoo's Nest", nicht mit einem eingebildeten, sondern dem echten Napoleon.

19.02.2021

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