Sein und Haben Frankreich 2002 – 102min.

Filmkritik

Aus der Liga der Anti-Stars

Filmkritik: Andrea Bleuler

Nicolas Philibert (Le pays des sourds) hat mit Dieter Bohlen gewisse Ähnlichkeiten: Er sucht nach neuen Helden. Für seinen Dokumentarfilm über das Leben und das Lernen hat er 400 Schulen besucht und ist schliesslich in der Auvergne fündig geworden. Bloss sind seine Stars letztes Jahr die Stufen von Cannes heraufgegangen.

Eine Gesamtschule irgendwo in Frankreich - in einem abgeschiedenen Dorf, wo ein Grossteil der Bevölkerung immer noch von der Landwirtschaft lebt. Dort hat Regisseur Nicolas Philibert das Sujet für seinen Film gefunden. Lehrer Lopez unterrichtet hier in einer Klasse 12 Kinder zwischen 4 und 11 Jahren und versucht, sie ihren Möglichkeiten entsprechend zu fördern. Wie in einem Spielfilm wird zwischen Hauptpersonen (der Lehrer und der charmanten Jojo) und Nebenakteuren unterschieden.

Philibert hat sein Portrait linear gestaltet. Die jahreszeitlich bedingte Veränderung der Landschaft ist der natürliche Hintergrund für die Entwicklung seiner Schulklasse. Mit inbegriffen ist aber auch das Familienleben der Schüler, die Arbeiten in der Landwirtschaft oder Freizeit, denn hier ist ein ganzheitliches Leben noch möglich

"Etre et avoir" ist kein bisschen weniger nostalgisch als "Amélie de Montmartre". Und Nicolas Philibert besteht darauf, zu vermitteln, dass diese Idylle sogar heute noch real ist: Die Kinderfinger sind voller Farbe. Der Lehrer ist menschlich und kein Vorzeigmonster der öffentlichen Hand. Inhaltlich wirkt der Streifen oftmals wie ein getarnter Werbefilm.

So wird der Lehrerberuf als der schönste Beruf der Welt angepriesen und die Kindheit als eine wundervolle Zeit, in die es sich lohnt, Zeit zu investieren - auch für stressgeplagte Erwachsene. Der Lehrer selbst ist Autorität des Wissens, ein wichtige Persönlichkeit in der Dorfgemeinschaft, gleichzeitig Zuhörer, Vertrauensperson, Berater und strenger Pädagoge, und sein Berufs-und Privatleben ist längst glücklichst verschmolzen.

Philiberts Portrait ist zwar rührend, aber bar jedes kritischen Ansatzes: Er hinterfragt nichts und begnügt sich damit, einen Zustand zu dokumentieren. Wie durch ein Wunder ist es ihm aber dennoch gelungen, seinen Film von kleinbürgerlicher Biederkeit fernzuhalten. Dadurch ist die Dokumentation nicht nur für Pädagogen geniessbar, sondern versprüht so etwas wie weltmännische "Naseweisheit".

25.05.2021

3

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Kommentare

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269127

vor 18 Jahren

Gewöhnt an manipulative Strategien des Hollywood Films (wie mitreissende Musik, expressive Dartsellung von Gefühlen, dramatischem Handlungsaufbau, Polarisierung in gut und böse u. a.) war es ersteinmal schwierig für mich, mich auf die wenigen Handlung, die Kargheit, die ausgeprägten Längen, die sehr feinen Untertöne und den Nicht-Aktionismus einzustellen. Als ich mich dann nach einiger Zeit eingewöhnte, bekam ich dann immer mehr gefallen an diesem Film.
Ich glaube, das Kritische an ihm ist die Gegenüberstellung der im Film ausgedrückten Sensibilität mit unserer heutigen schnelllebigen Zeit, einer Zeit mit unendlichen Optionen und Zerstreuungen, des Leistugsdrucks, die Gegenüberstellung mit einer Zeit, die für Kinder wenig Zeit, Wahrnehmung ihrer individuellen Eigenarten und Einfühlungsvermögen übrig lässt. Dass der Film in Frankreich so erfolgreich war, lässt hoffen, dass beim dortigen Publikum ein Wunsch vorhanden ist, Kinder mit Wertschätzung und Einfühlung zu begegenen.

Zum Schluss noch eine Kritik an der Kritik Ihrer Kritikerin Frau Bleuler: Schade, dass sie nicht im Stande war, die feinen Töne und den Gehalt des Films wahrzunehmen, sondern eine sehr klischeehafte, schwarz-weissmalerische, undifferenzierte und nicht wertschätzende Beurteilung vornahm. Filmkritik bedeutet für mich, nicht nur entweder Schwarz oder Weiss zu sehen, sonder sowohl Schwarz und Weiss und die vielen kleinen Grautöne zu sehen. Sonst sollte man es doch besser lassen.Mehr anzeigen


spiderrock

vor 21 Jahren

Dieser Film ist so echt und menschlich - ein Meisterwerk.


fabioreichelt

vor 21 Jahren

einmalig schön auf zwischenmenschlicher basis


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