Der Vorleser Deutschland, USA 2008 – 124min.

Filmkritik

Im Bett mit der Angeklagten

Patrick Heidmann
Filmkritik: Patrick Heidmann

Im sechsten Versuch hat Kate Winslet endlich den Oscar gewonnen. Doch kaum durfte die Britin den von ihr lang ersehnten Preis in Empfang nehmen, wurden Stimmen laut, sie habe die Auszeichnung für den falschen Film erhalten. «The Reader», die Verfilmung des Bestsellers von Bernhard Schlink, sei nicht preisverdächtig, sondern skandalös.

Als unbeschwerte Liebesgeschichte beginnt der Film von Stephen Daldry zunächst, als der 15-jährige Michael (David Kross) im Nachkriegs-Deutschland der 1950er Jahre eine Affäre mit der 20 Jahre älteren Trambahn-Schaffnerin Hanna Schmitz (Kate Winslet) beginnt, der er im Bett die Klassiker der Weltliteratur vorliest. Doch eines Tages ist Hanna ohne ein Wort des Abschieds verschwunden. Jahre später sieht Michael - mittlerweile Jura-Student - sie wieder: als Angeklagte vor Gericht. Und so kommt er hinter die beiden dunklen Geheimnisse seiner großen Liebe. Im Dritten Reich hat sie als Wärterin im KZ Auschwitz gearbeitet - und kann obendrein weder lesen noch schreiben.

Dass für diese Frau ihr Analphabetismus eine größere Schande ist, als ihre Verbrechen an der Menschlichkeit, ist schwer zu verdauen. Das war schon in Schlinks Roman so und ist auch in der Filmversion nicht anders, die sogar darauf verzichtet, Hanna im Gefängnis, wo sie schließlich lesen und schreiben lernt, Holocaust-Literatur in die Zelle zu stellen. «The Reader» deswegen vorzuwerfen, er würde die Verbrechen der Nazis herunterspielen, ist unzulänglich und zeugt von einem seltsamen Bedürfnis nach schlicht gestrickten Film- und Literaturfiguren, die doch bitte auch zur Reue fähig sein sollen.

Tatsächlich ist Hanna Schmitz eine sehr komplexe, keineswegs im herkömmlichen Sinne sympathische Person. Dass mancher das in der Filmversion nicht ohne weiteres zu erkennen vermag, liegt daran, dass Daldry und sein Drehbuchautor David Hare eine andere Erzählperspektive gewählt haben als Schlink. Statt das Geschehen durch den Blick des längst erwachsenen Michaels (Ralph Fiennes) in den 1990ern zu filtern, entscheidet sich der Film für eine objektivere Haltung - und rückt damit Hanna, nicht zuletzt durch die prominente Besetzung, stärker ins Zentrum. So bleibt manches von Michaels Traktaten über Schuld und Sühne außen vor. Zum verharmlosenden Skandal wird «The Reader» im Kino dadurch allerdings nicht.

Viel mehr ist der Film - trotz der mitunter allzu dominanten Musik oder des vorlagengetreuen, aber filmisch trivialen Besuchs einer KZ-Gedenkstätte - eine angenehm unkitschige Umsetzung eines diskussionswürdigen Buches. Wahrhaft sehenswerte Momente verdankt er nicht zuletzt seinen Schauspielern. David Kross ist in seiner dritten großen Rolle nach «Knallhart» und «Krabat» selbst in den sensibel-offenherzigen Liebesszenen erstaunlich souverän. Und Kate Winslet gelingt es auf faszinierende Weise gleichzeitig eiskalt und doch auch liebenswürdig zu sein, ohne je in Schwarzweiß-Malerei zu verfallen. Ihr Oscar ist daher, bei allen Schwierigkeiten, die man mit der Thematik von «The Reader» haben kann, hoch verdient.

20.05.2024

4

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Kommentare

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8martin

vor einem Jahr

Die Unterschiede bei diesem eigenartigen Liebespaar könnten größer nicht sein in Bezug auf Alter, Bildung und Herkunft. Aber was sie wirklich trennt, ist ihre Vergangenheit. Er hat noch keine und sie, diese Hanna Schmitz, war KZ Aufseherin. Damit bekommt diese äußerst sensibel erzählte Liebesgeschichte eine weitere Dimension: die Deutschen und die Nazis. Es stellt sich die Frage nach Schuld und Verantwortung, nach dem berühmt berüchtigten ‘Schlussstrich‘ und die beantwortet der Film auf seine Weise.
Ein hervorragend besetztes Ensemble aus Deutschen und Briten überzeugt bis in kleinste Nebenrollen. Unglaublich vor allem Kate Winslet sowohl als gefühlvolle Verführerin, als auch als barsche Frau, in der immer noch die Aufseherin steckt und die der Welt der Literatur doch so hilflos und unbedarft gegenübersteht. Ebenso großartig der junge, unschuldige Vorleser David Kross. Bruno Ganz bringt als Professor den intellektuellen Überbau (Jaspers ‘Die Schuldfrage‘) ein. Erwähnenswert ist auch der Hinweis auf die hervorragende Schnittfolge. Dieser ‘Goldene Schnitt‘ ist hier handlungsdienlich, informativ und kontrastbildend. Das emotional menschliche Highlight ist das Treffen der beiden nach vielen Jahren im Gefängnis, das schmerzhafteste die Erkenntnis, dass Hanna, wie sie sagt, nichts dazugelernt hat, außer Lesen. Und doch handelt sie anders. Gelungen sind auch die zwei Teile des Epilogs, die die Handlung gekonnt kreisförmig abrunden bzw. den Gedankengang weiterspinnen.
Großes Gefühlskino mit intellektuellem Überbau anspruchsvoll umgesetzt.Mehr anzeigen


stochi

vor 2 Jahren

Guter Film. Tolle k. Winslet. Das Buch war aber noch besser


1234jopy

vor 9 Jahren

Beklemmend.


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