A Family Tour Hongkong, Malaysia, Singapur, Taiwan 2018 – 107min.

Filmkritik

Sprachlos in Taiwan

Locarno Film Festival
Filmkritik: Locarno Film Festival

Wiedersehen einer entfremdeten Familie auf fremdem Terrain: Im Wettbewerb von Locarno zeigt der chinesische Regisseur Ying Liang seinen halb-autobiografischen Spielfilm A Family Tour.

Filmkritik von Silvia Posavec

Ein grün-gelber Reisebus kommt vor einem Hotel in Taipeh an. Darin eine Reisegruppe vom chinesischen Festland auf einem mehrtägigen Trip in Taiwan. Erwartet wird der Bus von einem Mann und seinem kleinen Sohn, dessen Mutter Yang Shu muss kurz vor der Ankunft aus der Lobby herbeigerufen werden. Fast widerwillig beobachtet sie, wie ihre betagte Mutter aus dem Bus steigt – sie haben sich fünf Jahre nicht gesehen. Ratlos stehen sie einander gegenüber. Die Mutter sagt: „Du hast deine Haare kurz geschnitten“, die Tochter erwidert: „Du siehst dünner aus als über Skype“. Die Szene gibt einen ersten Eindruck, wie weit Mutter und Tochter sich voneinander entfernt haben.

Der Regisseur Ying Liang inszeniert in seinem halb-autobiografischen Spielfilm A Family Tour das Wiedersehen einer entfremdeten Familie auf fremdem Terrain. Denn auch Yang Shu ist in Taiwan nicht zuhause, sie lebt mit ihrer Familie in Hongkong. Die Regisseurin lebt im Exil, seit sie einen vom Regime nicht autorisierten Film über ihren zu Unrecht verurteilten Vater veröffentlicht hat. Ihre Mutter ist nach dem Tod des Vaters allein in der ländlichen Region Sichuan zurückgeblieben. Sie ist krank, nach ihrer Rückkehr in die Volksrepublik steht ihr eine wichtige Operation bevor. Doch soll sie überhaupt mit der Reisegruppe zurückkehren? Oder könnte sie aus gesundheitlichen Gründen Asyl beantragen und ihrer Tochter nach Hongkong folgen?

So oder so, das heimliche Wiedersehen in Taiwan ist ein riskantes Unterfangen. Chinesische Autoritäten üben Druck aus, um die abtrünnige Tochter zu einer Rückkehr nach China zu bewegen – ihr Einfluss reicht bis nach Taiwan. Unter ständiger Beobachtung nimmt die Familie am touristischen Programm Teil, doch immer wieder sind sie gezwungen, ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu leugnen. Die nervöse Reiseleiterin liegt ihnen im Nacken, sie bangt um ihr Geschäft und will in regelmäßigen Abständen bestochen werden. Auch die anderen Reisenden schöpfen Verdacht, als sie die zaghaften Annäherungsversuche der Großmutter ihrem Enkel gegenüber beobachten. Nicht zuletzt sind da noch die vielen Taxifahrer, die neugierig erfragen, wieso eine Kleinfamilie aus Hongkong einem chinesischen Reisebus auf Schritt und Tritt folgt. Mutter und Tochter sind sich zu fremd, um vertraut zu wirken, und doch sind sie zu vertraut, um nach außen unauffällig zu sein.

Der Film lebt von den Spannungen zwischen den Frauen, von den Dingen die unausgesprochen bleiben oder erst nach Jahren zutage kommen. In ihrer Sprachlosigkeit spiegelt sich das System, in dem es besser ist, dem geliebten Menschen die Wahrheit vorzuenthalten, um ihn vor den Konsequenzen zu bewahren, die das Wissen für ihn haben könnte. Nur Yang Shus Mann bleibt optimistisch. Er findet auffällig oft die richtigen Worte und balanciert zwischen den Befindlichkeiten von Schwiegermutter und Frau. „Das ist Taiwan, hier können wir alles sagen“, ist seine Devise und hier spricht, so scheint es, auch ein wenig der Regisseur von A Family Tour. Ying Liang lebt selbst im Exil in Shanghai und schrieb das Drehbuch nach einer derartigen Reise mit seinen Schwiegereltern. Indem er dem Mann von Yang Shu seine Stimme der Vernunft verleiht, verpasst er es, ihm Kontur zu verleihen – der Charakter bleibt durchweg zu eindimensional. Der Dynamik des Filmes schadet das jedoch nicht: A Family Tour lebt von dem Willen der zwei Frauen, endlich wieder zusammenzufinden.

Der vorliegende Artikel entstand im Kontext der Locarno Critics Academy.

03.08.2018

4

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